Warum brauchen Orchester einen Dirigenten?

Warum brauchen Orchester einen Dirigenten?

Warum braucht ein Orchester einen Dirigenten?

Diese Frage stelle ich mir seit meiner ersten Praxisphase bei der Sächsischen Bläserphilharmonie.
Und sie ist für mich immer noch nicht eindeutig schlüssig beantwortbar.
Ich habe mich ein bisschen in das Thema Gruppendynamik in der Psychologie eingelesen, habe viele Artikel, die genau dieses Thema beleuchten, gelesen und mich selbst hinterfragt, warum ich diesen Beruf lernen möchte. Ich möchte meine Gedanken nun in diesem Blog mit Euch teilen.

Zunächst ist mir etwas klar geworden: Gruppen funktionieren in allen Altersstufen gleich. Es gibt Anführer, Mitläufer, Unauffällige und Störenfriede. Das ist im Kindergarten so, und das ist in einem Orchester so. Anders als die Kindergartengruppe verfolgen Gruppen von Erwachsenen, wie zum Beispiel ein Blasorchester, ein genaues Ziel. In unserem Fall ist das die Musik. Dabei treffen die unterschiedlichsten Charaktere und Gruppenrollen aufeinander. Das kann je nach Gruppe zu Konflikten führen: Gibt es zu viele Anführer, wird es nie nur einen Weg zum Ziel geben. Gibt es zu viele Unauffällige oder Mitläufer, schwindet die Qualität, denn niemand gibt die Richtung vor oder kann Motivieren, wie das zum Beispiel ein Anführer macht. Hier kommt meiner Meinung nach der Dirigent ins Spiel. Seine erste Aufgabe ist es also, das Orchester, die Gruppe zusammenzuführen. Er gibt den Weg zum Ziel vor, auf dem alle mitlaufen. Auch das kann Konflikte hervorbringen – die anderen Anführer oder auch die Störenfriede werden das verhindern wollen, denn es ist gegen ihre Charakternatur. Hier muss man sich als Dirigent durchsetzen, denn jedes Gruppenmitglied hat seine Aufgabe. Die Musiker müssen primär die Qualität ihrer künstlerischen und instrumentellen Fertigkeiten sichern. Da ist zunächst keine Zeit seine allgemeine Interpretationsideen zu verwirklichen.

Das ist im Fußball übrigens nicht anders. Der Trainer muss primär das Team führen, sodass die Mannschaft zusammen spielt/arbeitet, denn nur so kann man gewinnen, was das Ziel ist.
Wie der Trainer Taktiken entwickelt und das Training leitet, so hat der Dirigent die Aufgabe, das Stück im Sinne des Komponisten zu erarbeiten. Hierbei muss man unterscheiden, ob der Komponist noch lebt oder schon gestorben ist. Bei letzterem muss ein genaues Partiturstudium erfolgen, ein genaues Betrachten anderer Werke und des Lebenslaufs. So versucht der Dirigent, das Stück zu interpretieren. Das ist ähnlich, wie bei der geliebten Gedichtinterpretation in der Schule: Es gibt schon irgendwo ein richtig und falsch (z.B. massive Tempoveränderungen und Dynamikveränderungen, die expliziert notiert sind und die man einfach umgeht) aber letztlich ist jeder Aufsatz, jede Interpretation unterschiedlich. In Deutsch kann man auch beurteilen, ob der Schreibstil detailreich ist oder „Mainstream“- genau wie in der Musik auch.

Lebt der Komponist noch, ist die Interpretation vergleichsweise einfach: Man kann ja einfach Fragen.
Und warum macht das Orchester das nicht selbst und bespricht alle Stellen? Erstens: Durch die verschiedenen Charaktere in der Gruppe werden automatisch zu viele Interpretationen für eine Stelle in den Raum geworfen, und zweitens, in der Musik geht es um Zeit: Das Orchester bräuchte bei großen Stücken viel zu lange, um sich zu einigen. Der Dirigent hat die Aufgabe, die Musik nur im Notfall zu erklären, er kann und muss vieles einfach anzeigen. Er setzt seine Klangvorstellung oder die des Komponisten einfach durch – mit Demokratie hat das wenig zu tun, aber man braucht ja gewöhnlich viel Zeit für Beschlüsse, die wir in der Musik nicht haben, denn „Time is Money“.

Ein letzter Vergleich zum Fußball: Während des Spieles hat der Trainer die Zeit und auch die Aufgabe, die Spielweise seiner Mannschaft zu analysieren. Die Spieler sind ja bekanntlich ziemlich beschäftigt auf dem Platz und können von dort aus auch gar nicht den Spielverlauf analysieren. Der Trainer plant und leitet anschließend das Training, um ihm aufgefallene Fehler korrigieren zu können.

So auch der Dirigent. Er formt den Orchesterklang, denn er ist derjenige, der der räumlichen Position der Zuschauer am nächsten kommt. Von seinem Platz aus muss entschieden werden, ob die Oboe zu leise ist oder ob die Posaunen mal wieder übertreiben.
Während des Konzerts und auch während der Probe ist es die Aufgabe des Dirigenten, die Musiker abzuholen und zu fordern. Viele Leute kommen aus den unterschiedlichsten Alltagssituationen. Doch es geht auf der Bühne nur um die Musik. Da ist es gut, wenn jemand dich aus deinen vielleicht falschen Gefühlen zerrt und dein Können einfordert. Es geht ebenfalls um die Atmosphärenschaffung, die das Stück braucht. Das kann der Dirigent einfordern oder auch erst erschaffen, durch Energie, die er dem Orchester gibt oder durch seine Ausstrahlung und Gestik.

Zusammengefasst sehe ich den Dirigenten als Trainer, der seine Mannschaft, sein Orchester, im Training, in der Probe formt und während des Spiels, des Konzertes zu Höchstleistungen anspornt. Anders als im Fußball schafft der Dirigent gleichzeitig noch eine Atmosphäre, die dem Stück etwas ganz Eigenes und Magisches geben kann – das machen unter Umständen die Fans im Fußball. 

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